J. Perović: Rohstoffmacht Russland

Cover
Titel
Rohstoffmacht Russland. Eine globale Energiegeschichte


Autor(en)
Perović, Jeronim
Erschienen
Köln 2022: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 39,00
von
Timm Schönfelder, Mensch und Umwelt, GWZO

Oft werden Infrastrukturen erst sichtbar, wenn sie nicht mehr richtig funktionieren. Das gilt auch für das weitverzweigte Netz an Gas- und Ölpipelines, das seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Europa in eine tiefe Abhängigkeit erst von der Sowjetunion, dann von der Russländischen Föderation gebracht hat. Im Angesicht ihres Angriffskrieges gegen die Ukraine stehen wir nun an einer Epochenschwelle nicht nur der internationalen Sicherheits-, sondern auch der Energieordnung: Bald könnte Russland als «wichtigste[r] Rohstoffversorger Europas» (S. 12) abgelöst sein. So ist das vorliegende Buch besonders aktuell. Es zeichnet den, wie der Autor betont, in den meisten Überblicksdarstellungen vernachlässigten Aufstieg Russlands zu einer global hochvernetzten Energiegrossmacht nach. Dafür wird der zeitliche Bogen von den ersten Raffinerien im 19. Jahrhundert bis in die jüngere Gegenwart gespannt.

Eingangs umreisst Perović drei zentrale Themenfelder: Ölförderung und Globalisierung, Öl und Geopolitik sowie das gesellschaftliche Idealbild eines «Kohlenwasserstoff-Mensch[en]» samt seinem Drang nach Mobilität und persönlicher Freiheit (S. 34). Im Kaukasus wurde der Energiesektor unter russischer Herrschaft dank dem Investment westlicher Firmen ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelt. Russland stieg in direkter Konkurrenz mit den USA zu einer der führenden Erdölmächte auf. Dabei half ausländisches Engagement, so der Autor mit Verweis auf Manfred Hildermeier, «ein genuines russisches Unternehmertum herauszubilden» (S. 50). Trotzdem setzte man länger als andere Industriestaaten auf Kohle als Energieträger: Mitte der 1950er Jahre lag der Anteil von Erdöl und Erdgas am sowjetischen Energiemix mit 24 Prozent noch deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt von 40 Prozent. Hier spielte auch der Individualverkehr eine Rolle, setzte die Massenmotorisierung in der UdSSR doch erst Ende der 1960er Jahre zaghaft ein.

Bald nach der Oktoberrevolution versuchten die Bolschewiki durch Konzessionen an zuvor von ihnen enteignete westliche Firmen nicht nur die internationale Isolation zu überwinden, sondern auch dringend benötigte Expertise und Technik ins Land zu holen. 1923 gelang es unter der Ägide der Staatsorganisation Neftesindikat als Wahrer des Aussenhandelsmonopols wieder als Erdölexporteur aufzutreten. Sodann wurden im Ausland private Unternehmen wie die Russian Oil Products Ltd. gegründet und millionenschwere Kredite aufgenommen. «Dank einer aggressiven Tiefpreisstrategie» (S. 65) konnten sie ihre Marktanteile ausweiten. Bis zum Ende der 1920er Jahre holte die Sowjetunion zum Spitzenfeld auf: Erdöl und Erdölprodukte machten bis zu einem Fünftel des Gesamtwerts ihrer Exporte aus und generierten wichtige Deviseneinnahmen. Ideologische Vorbehalte spielten bei der Wahl der Handelspartner eine bestenfalls nachgeordnete Rolle; eine etwaige Abkopplung von der Weltwirtschaft sei auch unter Stalin keinesfalls im Interesse der Sowjetunion gewesen. Was aber aus Neftesindikat wurde und warum ab 1931 das der Staatsorganisation Sojusneft unterstellte Sojusnefteexport das Handelsmonopol innehatte, bleibt unerklärt.

Als die Erdölpreise Anfang der 1930er Jahre durch eine im Zuge der Weltwirtschaftskrise gefallene Nachfrage und die Erschliessung neuer Vorkommen etwa in Texas einbrachen, suchte die UdSSR ihre Verluste im Aussenhandel durch eine Steigerung der Weizenexporte aufzufangen. Perović deutet an, dass diese Handelspolitik die Hungerkatastrophe von 1932/33 mit ihren Millionen von Toten verschlimmerte. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges war der Kaukasus der wichtigste Ort für die sowjetische Ölförderung und -verarbeitung. Rund 90 Prozent der Industrie waren dort konzentriert, was ihn 1942 zu einem attraktiven Angriffsziel Hitlers machte. Sodann befahl Stalin, die lokale Infrastruktur zu demontieren und das Wolga-Ural-Gebiet zu erschliessen. Derweil war die Rote Armee auf Treibstoffimporte aus den USA im Rahmen des Leih- und Pachtgesetzes angewiesen.

Mit dem heraufziehenden Kalten Krieg baute die Sowjetunion ihre Handelsbeziehungen mit anderen sozialistischen Staaten aus. Besonders durch die 1964 vollendete Druschba-Pipeline wurde deren Bedarf an sowjetischem Öl geschürt. Zudem hatte Chruschtschow den Ausbau der Konsumgüterproduktion forciert. Die Erschliessung der sibirischen Rohstoffvorkommen befeuerte diese Entwicklung. Seit Ende der 1950er Jahre versuchte Sojusnefteexport, «den europäischen Markt mit immer grösseren Mengen billigen Öls zu überschwemmen» (S. 98). In den folgenden Jahren liess sich eine immer engere energetische Verknüpfung von Ost und West über ein wachsendes Pipelinenetz beobachten, das ab 1973 auch die Bundesrepublik mit sowjetischem Gas versorgte und den «Weg in die Abhängigkeit» (S. 107) ebnete. Die UdSSR konkurrierte mit den sich in der Ölpreiskrise als unzuverlässig erwiesenen OPEC-Staaten. Das Modell eines «Gas-gegen-Röhren-Deals» prägte die Handelsbeziehungen: hochwertiger Stahl und Technik aus dem Westen wurden gegen sowjetische Rohstoffe geliefert. Im Zuge einer «Gasifizierung» (S. 144) der UdSSR entwickelte sich Erdgas zum wichtigsten Energieträger. Mit Blick auf das «sozialistische Lager» wirkte, so Perović, Energie als «Kitt», der allerdings während der Reformprozesse der späten 1980er Jahre brüchig wurde (S. 153).

Nach dem Zerfall der Sowjetunion gelangte in mehreren Privatisierungswellen ein Grossteil der staatlichen Erdölunternehmen unter Wert in die Hände der Oligarchen. Erst Putin brachte über seine Machtvertikale den Energiesektor weitgehend wieder unter staatliche Kontrolle. Eine Entkopplung vom Weltmarkt würde der Wirtschaft jedoch grossen Schaden zufügen: «Denn genauso wie das Russland der Zaren und die Sowjetunion der Generalsekretäre ist auch Putins Russland auf ausländisches Kapital, Wissen und den Zugang zum Weltmarkt angewiesen, um sein Rohstoffpotential ausschöpfen zu können» (S. 182). Putins vorgebliche «Energiewaffe» stellt gleichzeitig die «Achillesferse» seines Systems dar (S. 198).

Perović liefert mit seiner Darstellung eine gute Zusammenfassung des Forschungsstandes, wobei der Fokus nicht so global ist, wie der Titel suggeriert. Dem im Duktus akademischen Buch ist eine Rezeption über das Fachpublikum hinaus zu wünschen.

Zitierweise:
Schönfelder, Timm: Rezension zu: Perović, Jeronim: Rohstoffmacht Russland. Eine globale Energiegeschichte, Köln: Böhlau, 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(2), 2023, S. 224-226. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00127>.